Max von der Grün – Werkausgabe Band X

Drei Wochen war Max von der Grün unterwegs. 1974 besuchte er auf Einladung der Goethe-Institute Izmir, Istanbul, Teheran, Kabul, Karatschi, Tel Aviv und Jerusalem. Das Ergebnis ist eine faszinierende und lebendige Schilderung dessen, was einem deutschen Schriftsteller passieren kann, wenn er als »Repräsentant deutscher Kultur« unterschiedlichste Länder besucht.

Der Band X enthält zusätzlich die Texte »Ein Tag wie jeder andere«, »Meine Erfahrungen mit Schülern und Lesern« und »Lesereise«.



Wenn der tote Rabe vom Baum fällt, Cover Wenn der tote Rabe vom Baum fällt
Prosa, (BAND X)
Herausgegeben von Günther Butkus
Mit einem Nachwort von Wolfgang Körner
Hardcover mit Schutzumschlag
312 Seiten, Euro 22,90, 978-3-86532-144-2
Pendragon Verlag, 2011


Leseprobe:

-Sonntag, 8.12.1974-
Als ich vom Geschrei der Raben erwache, stürze ich ans Fenster und will meine Wut in die Bäume schreien. Ich öffne das Fenster, in diesem Moment fällt ein toter Rabe vom Baum, auf den Rasen genau vor mein Fenster. Ich schließe es sofort wieder, ich erinnere mich, was Hilman mir erzählt hatte, aber es geschieht nichts. Die Raben bleiben auf ihren Ästen sitzen und glotzen mich nur aus großen Augen an. Ich gehe in den Garten, hebe den Raben an den Krallen auf, sehe ihn mir genau an und werfe ihn in die Mülltonne.
Ich gehe zurück und warte auf den Tanz der Raben. Aber nichts rührt sich in den Platanen. Nur ihre schwarzen Körper leuchten aus dem grünen Blattwerk.
Wir fahren mit zwei Autos zum Strand. Hilman mit seinem VW-Variant, Frau von Halem mit ihrem Käfer. Ich lade mein Gepäck ein, denn sie werden mich am Nachmittag vom Strand direkt zum Flughafen bringen.
Als ich meine verschnürte Plastiktasche mit den beiden Brücken in den Kofferraum werfe, lacht Frau von Halem laut und sagt: Der Gastarbeiter.
Welcher Nationalität, frage ich, und wir zwei spielen dann das Spiel der Spiele, das Spiel der Vorurteile:
Türke? – Nein, Moslems, Männergesellschaft, schmutzig, humorlos, rückständig.
Italiener? – Nein, Spaghettifresser, Papagalli, Anarchisten, Blender, Frauenhelden.
Spanier? – Um Gottes willen, nein, Faschisten.
Jugoslawe? – Wo denken Sie hin. Kommunisten.
Grieche? – Auch nicht, dumm, faul und gefräßig.
Portugiese? – Schon gar nicht. Umstürzler, Chaoten, Weiberhelden.
Schließlich sage ich ihr: Ich bin ein deutscher Gastarbeiter aus Deutschland. Sie antwortet mit Thoma: Dann lasst uns endlich frohlocken und Halleluja singen. [...]




Max von der Grün